About the festival
Dem Inspirationswort »Hereinforderung« folgend, bringt das Lausitz Festival vom 25. August bis 10. September 2023 ein faszinierendes Programm mit Uraufführungen, Premieren und Künstler:innen von Weltformat in eine Gegend, in der der Begriff »Strukturwandel« omnipräsent ist.
In der heterogenen Landschaft der Lausitz, die sich von Brandenburg über Sachsen bis ins polnische Grenzland erstreckt, lädt das Lausitz Festival zu Konzerten von Klassik bis Jazz, Tanz, Theater, literarischen Matineen, philosophischen Gesprächen und Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst. Die Spielstätten spiegeln dabei die wechselvolle Geschichte der Lausitz wider – neben architektonisch beeindruckenden Theaterhäusern werden Schloss- und Parkanlagen, Filmtheater, Industriedenkmäler und Kirchen zur Bühne für Kunsterlebnisse.
Das Festival steht unter der Schirmherrschaft der Ministerpräsidenten von Brandenburg und Sachsen, Dr. Dietmar Woidke und Michael Kretschmer.
»Hereinforderung«
Die Wortneuschöpfung »Hereinforderung« als Inspirationswort des diesjährigen Lausitz Festival mag irritieren, denn in der Regel bittet man herein oder fordert heraus. Aber wer fordert eigentlich mit welchem Recht? Und wo herein?
Die »Hereinforderung« im Lausitz Festival wird Türen aufstoßen und Räume öffnen, die dann gemeinsam zu entdecken sind. Ausgehend von dem Grundgedanken »Metamorphose« im Jahr 2020 über das assoziativ reiche Kunstwort »Zwischensamkeit« 2021 und dem doppelten Modus im »aufBruch« 2022 sind wir dieses Jahr zu einem Inspirationswort gelangt, das uns in Erinnerung ruft, wie notwendig es ist, Wertentscheidungen zu treffen.
Wie in den Vorjahren geht es also um etwas, dem wir bewusst und tätig werdend begegnen wollen: Der in der Lausitz omnipräsente, übergroße und eigentümlich technische Begriff »Strukturwandel« wird weiter in seine Bestandteile zerlegt und gelangt damit auf menschlich erlebbares Terrain. Könnten »Strukturwandel« und »Leben« am fernen Ende beieinanderliegende Begriffe sein? Indem sich die Lausitz im Festival selbst dazu ermuntert, (Un-)Bekanntes zu hinterfragen, Neues zu entdecken, zu denken und zu handeln, erschließt sie sich und anderen Zukunft.
Die Eröffnungsveranstaltung des Lausitz Festivals 2023 präsentiert die »Quattro pezzi sacri« (1887–1897) von Giuseppe Verdi und die »Ekklesiastische Aktion« (1970) von Bernd Alois Zimmermann theatral umgesetzt von Regisseur Luk Perceval in einer ehemaligen Flugzeughalle in Cottbus/Chóśebuz.
Zimmermann vollendete sein letztes Werk nur fünf Tage vor seinem Suizid. Es kombiniert biblische Verse aus dem 4. Kapitel Prediger mit Passagen der berühmten Großinquisitor-Legende aus Fjodor Dostojewskis Roman »Die Brüder Karamasow« und verkettet so im Wechsel von Singen und Sprechen Themen um Unrecht, Mühe und Einsamkeit mit Fragen der Unterdrückung und der Fähigkeit des Menschen zur Freiheit. Die Dimensionen von Freiheit und Überforderung werden in Dostojewskis »Großinquisitor« ausgereizt, der als literarischer Text auch separat im Festival gelesen wird. In Verdis vier geistlichen Stücken hingegen treffen lateinische Worte der katholischen Liturgie auf italienische Verse Dantes – zwischen A-cappella-Frauenchören und vierstimmig gemischten Chören mit großem Orchester. Dabei löst sich im »Te Deum« eine Sopranstimme aus dem Chor heraus. Das damit aufgeworfene Problem von Freiheit wird in der »Ekklesiastischen Aktion« verhandelt.
Die Freiheit der Kunst und die Freiheit dessen, was künstlerischer Ausdruck sein kann, wurden im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer größer. Gegenwartskünstler:innen lassen auch den Zufall walten, übertragen ihm die Kontrolle über das künstlerische Ergebnis und nehmen sich die Freiheit, dem eigenen künstlerischen Prozess Regeln zu geben und offenbaren damit eine große Lust, im künstlerischen Schaffen zwischen Freiheit und selbst gewählter Einschränkung. Die Kunst-Ausstellung »Solange ich kann« in Bad Muskau/Mużakow macht dies mit zahlreichen Objekten erfahrbar.
Im Dieselkraftwerk des Brandenburgischen Landesmuseums für moderne Kunst in Cottbus/Chóśebuz werden in einer rätselhaft anmutenden Installation von William Engelen gefaltete Papiere auf zahlreichen Notenständern zu skulpturalen Verdichtungen musikalischer Ereignisse zwischen Stille und Klang.
Fragen um Wert und Wort, um Preis und Maß wird in einer Kammerfassung von William Shakespeares »Der Kaufmann von Venedig« in der Regie von Stefan Pucher nachgespürt: Venedig ist der Markt, und dort wird nach allen Regeln der Kunst – vielmehr des Kommerzes – gehandelt. Der erfolgreiche Kaufmann und Schiffseigner Antonio, der jüdische Kaufmann Shylock und die aus Illyrien kommende Portia sind in einen zunehmend drastischen Kampf involviert. Die Diskussion um den ungewöhnlichen Schuldschein, der Shylock ein Pfund Fleisch aus Antonios Körper zusichert sowie der folgende Richterspruch der als Mann verkleideten und zur Instanz erhobenen Portia kreisen mehrschichtig um den Komplex nach Möglichkeit und Unmöglichkeit der Präsenz von transzendenten Werten unter den Menschen.
In einer Nebenhandlung wird das Problem von Glauben und Glück an die Weltwirklichkeit gebunden, als Shylocks Tochter vom Judentum zum Christentum konvertiert ist und zu hören bekommt: »Dies Christenmachen wird den Preis der Schweine steigern; wenn wir alle Schweinefleischesser werden, so ist in kurzem kein Schnittchen Speck in der Pfanne für Geld mehr zu haben.« Der Preis von Schweinespeck wird hier zum Maß der Dinge: Das Glück des Bauches stellt damit ganze Systeme infrage – auf dem Gelände der ehemaligen Telux-Fabrik in Weißwasser O.L./Běła Woda, an einem Ort, der von ehemaliger Ding-Produktion zur kulturellen Begegnungsstätte wird.
Ebenfalls an diesem Ort wird Bewegung künstlerisch im Musiktanztheater umgesetzt:
In »Gletscher« versammelt der israelische Komponist Haggai Cohen-Milo und die französische Choreografin Margaux Marielle Tréhoüart Musiker:innen, Sänger:innen und Tänzer:innen aus aller Welt in der Lausitz. Das Ensemble hat über Monate hinweg ihr Stück vor Ort entwickelt und in ihrer Arbeit dem Puls der Region nachgespürt. E-Gitarre, Bass, Schlagzeug, Synthesizer und Gesang entfalten daraus eine rhythmisch texturreiche und melodieverzauberte Musik, die mit den Körpern, dem tanzenden Licht und den Wahrnehmungen des Publikums verschmilzt. Geister und Helden erscheinen mitsamt ihren Mythen, Legenden und Halbwahrheiten. Die Aufführung in der ehemaligen Telux-Fabrik in Weißwasser O.L./Běła Woda wird zur Kartographie ihrer unvollkommenen Geschichte. Und zugleich erspielen die Darsteller:innen eine neue Form der Wertschöpfung: Aus der Freiheit von Veränderung wird die Freiheit zur Veränderung.
Der Wunsch nach Freiheit findet sinnlich neue Gestalt an der Neuen Bühne Senftenberg, wo die Kammeroper »Julie« von Philippe Boesmans (2005) nach August Strindbergs gesellschaftskritischem Trauerspiel »Fräulein Julie« (1888) in der Regie von Anna Bergmann aufgeführt wird. Die zwölf Szenen erzählen von der jungen Adligen Julie und dem Diener Jean sowie den sich verändernden Verhältnissen von Macht und Freiheit, von Lust und Liebe, von Mann und Frau. Sowohl im Drama als auch in der Oper entwickelt sich aus einem koketten Tanz eine folgenreiche Liebesnacht; am Morgen danach wechselt in der Küche – dem Arbeitsplatz von Jeans Verlobter Christine – das Kräfteverhältnis zwischen den drei Personen. Das für die Oper auf Deutsch verfasste Libretto von Luc Bondy und Marie-Louise Bischofberger lässt diskursive Gedanken zu, ohne die Narrativität der Geschichte zu sprengen. Der im letzten Jahr verstorbene belgische Komponist Philippe Boesmans hat für »Julie« eine intime Besetzung von rund 20 Orchestermusiker:innen vorgesehen, die es erlaubt, ein zart changierendes Klangnetz zu spannen.
Ganz dem Sagbaren und dem Wort verpflichtet ist Stefan Zweig, der in seinem autobiographischen Werk »Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers« die Kultur vor, zwischen und während der beiden Weltkriege beschreibt. Dieses Werk ist Ausgangs- und Zielpunkt eines musiktheatralen Abends im Theater Zittau, der sich angereichert mit Gedichtexzerpten von Karl Kraus, Jura Soyfer und Emile Verhaeren, Liedern der klassischen Moderne sowie einigen zeitgenössischen Fragmenten, in einem sinnlich-narrativen Bogen auf die Suche nach Sonnenhelligkeit in einer dunklen Welt begibt. In einer Welt, die sukzessive alle Kompasse zu verlieren scheint, lotet Zweig die Frage nach Relevanz und Wirksamkeit von im europäischen Kontext erwachsenen Werten aus.
Wie aber stehen nun Wirklichkeit und Ideal zueinander? Fordert ein Wert uns zu einer Gemeinschaft herein? Das philosophische Symposium »Lausitz Labor« wird sich über drei Tage lang im Alten Stadthaus Cottbus in Vorträgen und Diskussionen damit beschäftigen. International ausgewiesene Spezialist:innen aus den Bereichen Philosophie, Soziologie, Recht, Literatur, Kunst- und Kulturwissenschaften verhandeln einzelne Themenkomplexe des Festivals und reflektieren dabei die Wechselwirkung von Kunst und Gesellschaft.
Dem klassischen indischen Gesang verpflichtet ist die Sängerin Kaushiki Chakraborty, die in »Remembering the Divas« im Filmtheater Weltspiegel in Cottbus/Chóśebuz das Schaffen indischer Sängerinnen der vergangenen 150 Jahre würdigt und ihre Rolle in der Entwicklung der Gesellschaft ihres Heimatlandes hervorhebt.
Das Vokalensemble Roomful of Teeth präsentiert aus dem Kosmos des Klangs Kompositionen, die menschliche Stimmen in neuen Regionen zusammenführt. So verbinden sich der Kehlkopfgesang der Inuit, Jodeln, Belting, Pansori, klassischer persischer Gesang und viele andere musikalische Impulse zu einem kollektiven Klangkaleidoskop der Kunst im Filmtheater Weltspiegel in Cottbus/Chóśebuz.
Der englische Chor Tenebrae spürt in der Dorfkirche Cunewalde indessen mit »Path of Miracles«, einer Komposition von Joby Talbot (2005), der Pilgerreise nach Santiago de Compostella nach. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit nutzten viele Pilger auf der Wanderung des Jakobswegs die Via Regia, die das Rheinland mit Schlesien verband.
Deutlich diesseitsbezogener wird der Auftritt des portugiesischen Orquestra Jazz de Matosinhos werden, das zum ersten Mal eine Big Band im Rahmen des Festivals in die Kulturweberei Finsterwalde in der Lausitz bringt. Der überraschend filigrane Sound aus Porto wird sich mit der Virtuosität des US-amerikanischen Gitarristen Kurt Rosenwinkel verbinden.
Dass formale Freiheit sich mit größtem Können verbindet, beweisen das Jazz-Duo Michael Wollny und Émile Parisien. Das kongeniale Zusammenspiel des deutschen Pianisten und des französischen Saxophonisten fasziniert im architektonisch relaxten Ambiente des technischen Denkmals Brikettfabrik Louise in Domsdorf. An diesem besonderen Ort wird auch der mehrfache Grammy-Preisträger Michel Camilo, geboren und aufgewachsen in der Dominikanischen Republik, seine packenden wie mitreißenden rhythmischen Improvisationen am Klavier präsentieren.
Das gleiche Instrument wird in anderer Farbigkeit der Weltenwanderer Piotr Anderszewski im Staatstheater Cottbus spielen: Der polnische Pianist lotet in dieser Saison die Grenzen zwischen Polyphonie und Atonalität aus. Mit Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 6, Béla Bartóks Bagatelles, Karol Szymanowskis Mazurken op. 50 und Anton Weberns Variationen meistert er einen Grenzgang der besonderen Art.
Nebst dem literarischen Erscheinen von Dostojewski, Strindberg und Zweig wird das gesprochene Wort auch in weiteren Facetten erstrahlen: Arthur Schnitzlers »Fräulein Else« wird im Park und Schloss Branitz in Lesung und kenntnisreichem Kommentar von Hanjo Kesting von Werten und Begierden erzählen, während ausgewählte Erzählungen der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk – gelesen von Claudia Michelsen im Sorbischen Museum Bautzen/Serbski muzej Budyšin – eigene Welten und Universen schaffen.
Andere Farben der Weiblichkeit werden in dem Briefwechsel von Brigitte Reimann und Christa Wolf in der Rabryka in Görlitz sichtbar; es lesen Fanny Staffa und Christine Hoppe vom Staatsschauspiel Dresden. Des Weiteren werden dramatische Texte von zwei Jungautoren, die letztes Jahr die Lausitz im Festival bereist haben, in einer szenischen Lesung in der Kunsthalle Görlitz präsentiert.
Die Lausitz selbst wird von Simply Quartet zum musikalischen Klingen gebracht: Das Streichquartett spielt erstmals Werke sorbischer Komponisten wie Jan Paul Nagel und Bjarnat Krawc, die von der Landschaft und den Tänzen ihrer Heimat inspiriert sind. Die jungen Musiker:innen der Formation sind auf den großen Konzertbühnen wie der Wigmore Hall in London, der Elbphilharmonie in Hamburg oder dem Musikverein Wien zu Hause, befassen sich mit den musikalischen Traditionen ihrer Heimatländer China, Norwegen und Österreich und sind stets offen für neue Impulse – so auch aus der Lausitz, erlebbar in der Kulturfabrik Hoyerswerda/Wojerecy.
Alle Veranstaltungen kommunizieren auf unterschiedliche Weise den Impuls der »Hereinforderung«, die eine besondere Ausprägung im Kulturforum Görlitzer Synagoge im Konzert »Hineni« erfährt. Dieser Titel bedeutet »Hier bin ich« oder »Ich bin bereit« und ist sowohl Abrahams als auch Moses’ biblische Antwort auf den jeweils an sie gerichteten Ruf Gottes. Den eigens für den Abend erstellten Bearbeitungen klassischen israelisches Liedguts werden europäische frühbarocke Choräle auf hebräische Gebetstexte, vor allem von Salomone Rossi, gegenübergestellt. Die Liedtexte handeln von Hoffnung auf Freiheit, Streben nach Würde und Sehnsucht nach Liebe.
Während die Eröffnungsveranstaltung am 25. August mit vollem Orchester, großem Chor und Solisten opulente Klänge von Verdi und Zimmermann zwischen den Jahrhunderten setzt, ist das Abschlusskonzert in der Dorfkirche Cunewalde von einer bewussten Innerlichkeit: Maxim Vengerov wird auf der Geige mit seiner Klavierpartnerin Polina Osetinskaya die so vielfältig untersuchten und umspielten Aspekte von Idealen, Werten und Wirklichkeiten klanglich nachvollziehen und uns ermöglichen, die »Hereinforderung« in zarter Schönheit zu hören.
Der Zusammenprall von Idealen und politischer Wirklichkeit, der auch als Spannungsverhältnis zwischen religiöser und politischer Aktion beschrieben werden kann, ist gleichsam ein Leitmotiv des diesjährigen Lausitz Festivals. Das Programm will an die alte Frage erinnern: Sind Ideale lebbar? Oder sind sie praxisfern und lebensfremd? Inwieweit ist im öffentlichen Raum Pragmatismus zum obersten Gebot avanciert und das Mittel-Zweck-Verhältnis zum bestimmenden Maßstab für unser Leben? Wurden Ideale also aus dem Leben der Menschen in das Reich der Wünsche verdrängt?