Erhalten Sie bis zu 30% Rabatt beim Kauf von mehreren Tickets. Weitere Informationen

Eröffnungsrede Lausitz Festival 2023

Das Lausitz Festival beschäftigt sich immer mit Transformation, also mit dem Prozess des Schaffens neuer Welten, die anstelle anderer Welten entstehen müssen. Schaffen ist ein komplexer und rätselhafter Prozess, der anregend und hoffnungsvoll, aber auch gefahrenvoll und ermüdend sein kann, fordert er uns doch ständige Entscheidungsbereitschaft ab; Schaffen bedeutet Entscheidung und Festlegung, denn es gilt, existenziell relevante Unterscheidungen zu machen, Verworrenes durch Trennungen zu klären und für Neues adäquate Namen zu finden. Zur möglichen Rolle eines Festivals der Künste und des Denkens innerhalb dieses Prozesses trug Christoph Menke, der das philosophische Modul des Festivals mit kuratiert, aus Anlass der Festivaleröffnung im Kommunikations- und Medienzentrum der BTU in Cottbus die folgenden Bemerkungen vor, die wir hier dankend wiedergeben. 

Daniel Kühnel  

 

Hereinforderung – Prof. Dr. Christoph Menke zur Eröffnung des Lausitz Festivals 2023 

Was machen wir hier, was tun wir hier eigentlich, was wollen wir hier?  

Wir – das ist das Lausitz-Festival; diejenigen, die sich daran beteiligen: die es konzipieren, finanzieren, planen, organisieren, alle, die die Stücke aufführen, die Ausstellungen kuratieren und aufbauen, die Vorträge halten und die Diskussionen über sie führen, moderieren und aufzeichnen, und diejenigen, die die Aufführungen, Ausstellungen, Vorträge und Diskussionen besuchen und an ihnen teilnehmen. 

Und hier – das ist die Lausitz. Also eine derjenigen Regionen in Deutschland, die von den Notwendigkeiten der ökologisch-ökonomischen Transformation am härtesten getroffen sind und am grundlegendsten umgewälzt werden und wo sich daher auch die politischen, sozialen, kulturellen, psychischen Krisen am drastischsten zeigen, die diese Transformation hervorbringt. Ich erinnere nur an die grundsätzliche politische Frage: Können Demokratien westlich-liberalen Stils, die auf dem Versprechen von Wohlstand und Wohlfahrt beruhen, mit dieser Transformation überhaupt umgehen? Oder werden sie daran zerbrechen? Was könnte an die Stelle des Wohlstands- und Wohlfahrtsversprechens treten, aus dem die liberalen Demokratien des Westens ihre Legitimation beziehen? Und die kulturelle Frage: Können wir unsere Vorstellungen des guten Lebens auf den Mangel umstellen? Haben wir Ideen dazu, was wir tun wollen, was uns glücklich macht, das zugleich aber nur auf minimalem Ressourcenverbrauch beruht? Also Ideen des Guten jenseits von Konsum? Und unmittelbar damit verbunden die soziale Frage: Was heißt hier, in all diesen Fragen, von „wir“ zu sprechen? Wer ist dieses Wir? Die Besserverdienenden, die diese Frage gewöhnlich unter sich verhandeln? Oder auch diejenigen, die sowieso schon von der Hand in den Mund leben (und dafür zunehmend darauf angewiesen sind, dass andere ihnen auf den Tisch stellen, was sie dann zu sich nehmen – so dass sie also Abhängige werden, abhängig von der Großzügigkeit und den Gaben anderer)? Was sollen sie denken, wenn ihnen gesagt wird, dass die Notwendigkeiten der ökologisch-ökonomischen Transformation ihnen auferlegen, sich einzuschränken? Ich weiß schon, man soll nicht von Krise reden, sondern die, wie es heißt, „Chancen“ der Transformation herausstreichen. Aber machen wir uns und den Leuten nichts vor (denn die Leute wissen dies): Wir gehen durch eine Krise – in der Lausitz nur konkreter, greifbarer offensichtlicher als in anderen Teilen der Welt – und vielleicht ist das auch gut so, denn in der Krise entscheiden sich die Dinge. 

Also noch einmal: Was machen und wollen wir hier, in dieser Lage, mit einem Festival der Künste und des Denkens? Der Diskurs der Kulturvermittlung bietet eine Vielfalt von Begriffen auf, um zu beschreiben, was die Künste und das Denken in einer solcher Lage tun können oder sollen: Angebote machen, zur Teilnahme einladen, Orientierung bieten, Werte vermitteln. Der Intendant des Festivals, Daniel Kühnel, hat einen ganz anderen Gedanken ins Spiel gebracht. Er hat das Festival in diesem Jahr unter die Losung und das Leitwort „Hereinforderung“ gestellt. Das Festival positioniert sich damit so in der Transformationsregion, in dem Krisenlabor der Lausitz, dass es etwas von ihr fordert. Das ist erstaunlich, ja, verwegen. Das Festival fordert die Leute auf, in den Raum und die Zeit der Künste und des Denkens einzutreten, die das Festival eröffnet. Das Festival ermöglicht nicht nur, dass wir die Erfahrungen der Kunst und des Denkens machen, es will dies von und für uns, es will uns dazu verpflichten; es macht nicht nur ein Angebot, sondern erhebt einen Anspruch. Das Festival, so verstehe ich das diesjährige Losungswort „Hereinforderung“, formuliert also eine Behauptung, die in unseren liberalen Demokratien irre, irre riskant, unverschämt, maßlos klingen muss: Es sagt, dass es nicht nur eine Chance ist, sich den Erfahrungen der Künste und des Denkens, die das Festival eröffnen will, auszusetzen, sondern dass dies eine Forderung an uns ist, weil es gut ist, gut für uns alle. Mit der „Hereinforderung“, mit der das Festival uns gegenüber auftritt, geht daher zugleich ein Versprechen einher, das das Festival, sozusagen im Gegenzug, uns gibt: das Versprechen von etwas Gutem, dass es für uns gut sein wird, diese Erfahrungen zu machen. Das ist weniger ein Vertrag als ein Bund, den das Festival uns anbietet. Es fordert uns auf, hereinzutreten, und verspricht, dass wir etwas erhalten, nämlich etwas erfahren werden, das wir noch gar nicht kennen und daher auch gar nicht wollen können. Das Festival ist nicht dazu da, uns zu geben, was wir wollen, unsere Wünsche zu erfüllen. Es will unsere Wünsche übererfüllen, uns mehr geben, als wir wollen können, weil es uns zu Erfahrungen auffordert, die uns über das hinausführen können, was wir schon sind. 

Aber mit welchem Recht und mit welcher Autorität kann ein Kultur-Festival, können die Künste und das Denken etwas von uns fordern? Was berechtigt und ermächtigt sie dazu? Ich verstehe das nicht so, dass die Künste und die Künstlerinnen und Künstler behaupten wollen, im Besitz einer höheren Wahrheit zu sein, die dann auch denen zuteil wird, die in ihren Raum eintreten. Die Lausitz ist, Gott sei Dank, nicht Bayreuth, das Lausitz-Festival will keine „Weihefestspiele“ veranstalten, wie Richard Wagner dies für Bayreuth geplant hatte. Der Anspruch an uns, hereinzutreten, uns den Erfahrungen der Künste und des Denkens auszusetzen, den das Lausitz-Festival erhebt, ist ebenso stark wie bescheiden. Denn diese Forderung erhebt das Festival aus der Mitte der Lausitz und als Teil von ihr und sie erfolgt nicht im eigenen Namen der Künste. Die Künste, das Festival erheben diese Forderung im Namen eines anderen, in deren Dienst sie sich stellen. Sie geben eine Forderung, eine Hereinforderung, weiter, die von woanders herkommt. Es geht, konkret gesprochen, darum, durch die Erfahrungen der Künste daran zu erinnern, dass die Hereinforderung die entscheidende Bedingung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ist. Miteinander zu leben, also eine Gesellschaft zu bilden, ist nichts, das sich von selbst vollzieht – das von Natur aus da ist. Es ist etwas, das uns als eine Forderung entgegenkommt: nicht unsere Forderung an die Gesellschaft, sondern die Forderung der Gesellschaft an uns; die Forderung nämlich, ein anderer, wahrhaft ein sozialer Teil, ein sozialer Teilnehmer zu sein. Die Gesellschaft fordert von uns, dass wir unser Leben ändern. Wenn die Kunst uns herein- und damit zugleich herausfordert, dann tut sie das, um uns die Herausforderung vor Augen zu führen, die die Hereinforderung in eine Gesellschaft darstellt, die mehr als nur eine Verabredung zum wechselseitigen Nutzen ist; sondern ein Miteinander, in dem wir unser Leben mit den anderen zu teilen versuchen. 

Wir werden in vielen der Kunstwerke, die in den nächsten Wochen in der Lausitz zur Aufführung kommen, sehen und hören, welche Dynamiken, Verwerfungen, Kämpfe, aber auch welche Versöhnungen und welches Glück daraus entstehen. Wir werden die Hereinforderungen zum Beispiel im „Kaufmann von Venedig“ in den Medien des Rechts und des Geldes verhandelt sehen, wir werden dort auch von Gerechtigkeit und Rache, in der Eröffnungsaktion, im Stefan Zweig Abend „Die Welt von Gestern“ und im Tanztheater „Gletscher“ von Ordnung und Freiheit, bei „Julie“ von der Liebe und ihren sozialen Bedingungen und Blockaden erfahren. Und wir werden im philosophischen Teil des Festivals, dem Lausitzlabor, über all das diskutieren.  

Abschließend erinnern – darauf hinweisen, wie in einer Trigger warning – möchte ich noch an oder auf etwas, das Sie vielleicht nicht erwarten, das, auf den ersten Blick, befremdlich scheinen mag: dass bei all dem die Religion eine wichtige, zentrale, unerlässliche Rolle spielt. Das hat nicht, also nicht allein, damit zu tun, dass viele der Kunstwerke älter sind, aus der Zeit vor der Säkularisierung stammen, die – zumindest und nicht eigentlich nur – die westeuropäischen Gesellschaften im 20. Jahrhunderts erlebt haben. Viele der präsentierten Kunstwerke sind auch gar nicht so alt, wie zum Beispiel Bernd Alois Zimmermanns Ekklesiastische Aktion (von 1970), die wir gleich hören werden. Aber sie denken die Hereinforderung (nicht viel anderes heißt ja ekklesiastisch) so, dass sie für uns von außen kommt, dass sie uns in ein anderes hereinfordert, indem sie uns aus dem, was wir schon sind, herausfordert, und sie nennt dieses Außen, dieses Andere „Gott“. Ist das befremdlich? Für die meisten von uns ist es das. Na und? Genau darum geht es hier: sich befremden zu lassen.